Samstag, 19. Mai 2012

Pompeji des Atomzeitalters

Brennstäbe in Fukushima - Gefahr aus dem Abklingbecken 
von Markus Becker / Spiegel Online
 
In den Abklingbecken des havarierten Atomkraftwerks Fukushima lagern bis heute ungeheure Mengen heißer Brennstäbe, und damit hochgefährliches Material. Ein weiteres Erdbeben könnte eine neue Atomkatastrophe auslösen. Denn niemand weiß, wie stabil die Gebäude noch sind.
Ron Wyden ist in der Öffentlichkeit meist in Anzug und Krawatte zu sehen. Doch Anfang April hüllte sich der US-Senator in einen Strahlenschutzanzug und begutachtete die Ruinen des Kernkraftwerks Fukushima. Was er sah, machte ihn nervös. "Hunderte Tonnen Trümmer" seien auf dem Gelände des japanischen AKW verstreut, sagte Wyden dem US-Sender MSNBC. "Riesige Lkw liegen herum wie die Spielzeuge meiner vierjährigen Zwillinge."
"Besondere Sorge" bereite ihm aber nicht die Unordnung, sondern die gewaltigen Mengen an nuklearem Brennstoff, die in den Abklingbecken in den oberen Stockwerken der Reaktorgebäude lagern. Mit dieser Sorge ist Wyden in bester Gesellschaft: Mehrere Fachleute warnen davor, dass im Falle eines erneuten Erdbebens die Abklingbecken zerstört werden, das Kühlwasser ausläuft und die Brennelemente schmelzen. Im schlimmsten Fall könne es gar zu einer unkontrollierten Kettenreaktion kommen.
Die Brennelemente eines Siedewasserreaktors werden etwa alle fünf Jahre ausgetauscht. Nach ihrem Einsatz sind sie so heiß, dass sie noch jahrelang unter ständiger Kühlung in Abklingbecken gelagert werden müssen, ehe sie in Trockenbehälter umziehen können. Allein im Abklingbecken von Reaktor 4 beträgt die Nachzerfallswärme derzeit rund 5,8 Megawatt, wie Experten des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) für SPIEGEL ONLINE berechnet haben. Das entspricht der Leistung von 58.000 Glühbirnen à 100 Watt.
Wie die Betreibergesellschaft Tepco auf Anfrage mitteilte, lagern im AKW Fukushima bis heute mehr als 11.000 verbrauchte und knapp tausend neue Brennelemente (siehe Tabelle). Experten halten das für hochgefährlich: Die Abklingbecken befinden sich in den oberen Etagen der Reaktorgebäude, die durch das Starkbeben vom 11. März 2011, den anschließenden Tsunami und mehrere Wasserstoffexplosionen schwer beschädigt wurden.
 
Sicher vor "ziemlich starken" Erdbeben
Wie groß ihre Widerstandskraft gegen ein erneutes Beben ist, weiß niemand - auch nicht die AKW-Betreiberfirma Tepco. "Die Reaktorgebäude können ziemlich starken Erdbeben widerstehen", erklärte eine Sprecherin auf Anfrage lediglich. Welche Magnitude mit "ziemlich stark" gemeint ist, verriet sie nicht. Aber man habe eingehende Berechnungen durchgeführt und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Reaktorgebäude bebensicher seien.
"Das ist eine Vernebelungsstrategie", sagt Lars-Olov Höglund, der zehn Jahre lang Chefkonstrukteur der Forsmark-Atomkraftwerke des Vattenfall-Konzerns war und danach 25 Jahre als technischer Berater für die schwedische Atomindustrie, Umweltorganisationen und die schwedische Regierung gearbeitet hat. Wie stark das Beben, die Wellen und die Wasserstoffexplosionen die Gebäude in Mitleidenschaft gezogen haben, "lässt sich unmöglich berechnen". Die Statik der Bauten sei komplex, und viele ihrer Bereiche seien aufgrund der Schäden und der Strahlung unzugänglich. "Es ist unmöglich, die Gebäude für erdbebensicher zu erklären."
Im Zentrum der aktuellen Warnungen steht Reaktorblock 4, dessen Dach von einer Wasserstoffexplosion weggesprengt wurde. Das Gleiche ist in den Gebäuden 1 und 3 geschehen, in Block 4 aber sind die Schäden besonders groß. Oberhalb der fünften Etage seien "die meisten Wände und Dachplatten verloren gegangen", heißt es in einem Tepco-Report zur Bebensicherheit der Gebäude. Anders als in Gebäude 1 seien in Nummer 4 nicht nur die Wände in der fünften Etage zerbröselt, sondern auch im vierten und sogar im dritten Stock.
"Mit Sicherheit gibt es auch Schäden an den Abklingbecken selbst", sagt Höglund. "Wir sehr sie geschwächt sind, wissen aber vermutlich nicht einmal die Japaner." Tepco selbst erklärt dazu, man habe man den Boden des Abklingbeckens in Gebäude 4 mit Beton verstärkt, so dass es nun 20 Prozent stabiler sei als nach dem Tsunami. "20 Prozent mehr im Vergleich wozu?", fragt Höglund. Eine solche Angabe ergebe keinen Sinn, da die Stabilität seit der Katastrophe nicht berechenbar sei.
 
Sicherheit bei Erdbeben ab Stärke sieben zweifelhaft
KIT-Wissenschaftler Joachim Knebel äußert sich ähnlich. Die Reaktorgebäude seien "nachhaltig beschädigt", es dringe Grundwasser ein. "Bei Erdbeben ab Stärke sieben ist die Stabilität der Strukturen nicht mehr gewährleistet." Derartige Erdstöße sind in Japan bei weitem keine Seltenheit: Allein seit 2003 hat das Land zwölf solcher Beben erlebt. Tepco aber habe zehn Jahre dafür veranschlagt, die Brennstäbe in trockene Lagerung zu überführen, kritisiert US-Senator Wyden: "Das muss beschleunigt werden."
Sollte eines der Abklingbecken leckschlagen, wären die Folgen höchst unangenehm. Die ungekühlten Brennstäbe würden schmelzen, erklärt KIT-Experte Walter Tromm. "Das Zirkon in den Brennstabhüllen würde mit dem Wasserdampf reagieren und Wasserstoff bilden." Sollten die beschädigten Reaktorgebäude dann schon mit neuen Dächern versehen sein, könnte eine neue Explosion sie gleich wieder zerstören.
Falls nicht, würden radioaktive Spaltprodukte ungehindert in die Atmosphäre gelangen. Gefährlich sind in einem solchen Fall insbesondere die alten Brennstäbe, in deren Hüllen sich große Mengen an Spaltprodukten angesammelt haben. "Dieser ganze Dreck würde dann in die Luft gelangen", sagt Höglund.
Er hält sogar noch Schlimmeres für möglich. Da die Brennelemente in sich nicht stabil sind, stehen sie in den Abklingbecken in Gestellen. "Sollten die bei einem Erdbeben zu Bruch gehen, würden die Brennelemente zusammenstürzen", so Höglund. "Wenn sie am Boden des Beckens eine kritische Masse bilden und mit Restwasser in Kontakt kommen, kann es zur unkontrollierten Kettenreaktion kommen." Dann wäre "der Teufel los": Hunderttausende Liter Wasser könnten binnen Sekunden verdampfen, strahlende Partikel und radioaktive Gase würden sich in der Umgebung verteilen.
 
Es kann nicht sein, was nicht sein darf
Für den Fall eines Abklingbecken-Bruchs hat Tepco anscheinend keinen Plan in der Schublade. Auf entsprechende Fragen antwortet das Unternehmen ausweichend: Bei einem Ausfall der Kühlpumpen würde es 16 Tage dauern, ehe der Wasserspiegel bis zur Oberkante der Brennelemente gesunken wäre - was aber im Falle eines größeren Lecks Makulatur wäre.
Sollte ein Abklingbecken tatsächlich Wasser verlieren, werde schon nichts passieren: "Die Wahrscheinlichkeit einer Schmelze oder einer unkontrollierten Kettenreaktion ist gering", lautet der Kommentar der Firma, frei nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Höglund wundert das nicht. "Ein großer Riss im Abklingbecken ist in Kernkraftwerken schlicht nicht vorgesehen. Dazu gibt es keine Szenarien und keine Vorbereitungen."
Tromm hält eine unkontrollierte Kettenreaktion zwar für weniger wahrscheinlich, sieht dafür aber noch eine andere Gefahr. Drei der sechs Reaktoren in Fukushima wurden mit Meerwasser geflutet, als es zur Kernschmelze kam. Das Wasser steht jetzt in den Sicherheitsbehältern, die den Reaktordruckbehälter umgeben. "Für diese Wassermengen sind die Behälter nicht ausgelegt", sagt Tromm. "Ob sie den Schwingungen durch ein Erdbeben gewachsen wären, ist zweifelhaft."
US-Politiker Wyden, leitendes Mitglied des Senatsausschusses für Energie und natürliche Ressourcen, befürchtet im Fall eines neuen starken Erdbebens "eine noch größere Freisetzung von Strahlung als beim ersten Mal". Nach seinem Fukushima-Besuch hat er Brandbriefe an US-Außenministerin Hillary Clinton, Energieminister Steven Chu und den Chef der US-Atomaufsichtsbehörde NRC Greg Jaczko geschrieben, in denen er mehr Unterstützung für die Aufräumarbeiten in Fukushima fordert.
Die Schäden am AKW seien "weit jenseits dessen, was ich erwartet hatte", so Wyden. Die Lagervorrichtungen für Brennelemente befänden sich "in einem Zustand des Verfalls" und lägen in Bereichen, die sie "für kommende seismische Ereignisse verwundbar machen". Der Tsunami vom März 2011 war mit 14 Metern weit höher, als die Kraftwerksplaner erwartet hatten - er überspülte den Deich des AKW problemlos. Jetzt, sagt Wyden, sei der einzige Schutz vor einem weiteren Tsunami "ein kleiner, provisorischer Deich aus Steinsäcken".

http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/fukushima-brennelemente-in-abklingbecken-bedeuten-gefahr-a-831078.html
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46637177.html