Brennstäbe in Fukushima - Gefahr aus dem Abklingbecken
von Markus
Becker / Spiegel Online
In den Abklingbecken des havarierten Atomkraftwerks Fukushima
lagern bis heute ungeheure Mengen heißer Brennstäbe, und damit hochgefährliches
Material. Ein weiteres Erdbeben könnte eine neue Atomkatastrophe auslösen.
Denn niemand weiß, wie stabil die Gebäude noch sind.
Ron Wyden ist in der Öffentlichkeit meist in Anzug und
Krawatte zu sehen. Doch Anfang April hüllte sich der US-Senator in einen
Strahlenschutzanzug und begutachtete die Ruinen des Kernkraftwerks
Fukushima. Was er sah, machte ihn nervös. "Hunderte
Tonnen Trümmer" seien auf dem Gelände des japanischen AKW verstreut,
sagte Wyden dem US-Sender MSNBC. "Riesige Lkw liegen herum wie die
Spielzeuge meiner vierjährigen Zwillinge."
"Besondere Sorge" bereite ihm aber nicht die
Unordnung, sondern die gewaltigen Mengen an nuklearem Brennstoff, die in
den Abklingbecken in den oberen Stockwerken der Reaktorgebäude lagern.
Mit dieser Sorge ist Wyden in bester Gesellschaft: Mehrere Fachleute warnen
davor, dass im Falle eines erneuten Erdbebens die Abklingbecken zerstört
werden, das Kühlwasser ausläuft und die Brennelemente schmelzen. Im schlimmsten
Fall könne es gar zu einer unkontrollierten Kettenreaktion kommen.
Die Brennelemente eines Siedewasserreaktors werden etwa
alle fünf Jahre ausgetauscht. Nach ihrem Einsatz sind sie so heiß, dass
sie noch jahrelang unter ständiger Kühlung in Abklingbecken gelagert werden
müssen, ehe sie in Trockenbehälter umziehen können. Allein im Abklingbecken
von Reaktor 4 beträgt die Nachzerfallswärme derzeit rund 5,8 Megawatt,
wie Experten des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) für SPIEGEL
ONLINE berechnet haben. Das entspricht der Leistung von 58.000 Glühbirnen
à 100 Watt.
Wie die Betreibergesellschaft Tepco auf Anfrage mitteilte,
lagern im AKW Fukushima bis heute mehr als 11.000 verbrauchte und knapp
tausend neue Brennelemente (siehe Tabelle). Experten halten das für hochgefährlich:
Die Abklingbecken befinden sich in den oberen Etagen der Reaktorgebäude,
die durch das Starkbeben
vom 11. März 2011, den anschließenden Tsunami
und mehrere Wasserstoffexplosionen schwer beschädigt wurden.
Sicher vor "ziemlich starken" Erdbeben
Wie groß ihre Widerstandskraft gegen ein erneutes Beben
ist, weiß niemand - auch nicht die AKW-Betreiberfirma Tepco. "Die
Reaktorgebäude können ziemlich starken Erdbeben widerstehen", erklärte
eine Sprecherin auf Anfrage lediglich. Welche Magnitude mit "ziemlich
stark" gemeint ist, verriet sie nicht. Aber man habe eingehende Berechnungen
durchgeführt und sei zu dem Ergebnis gekommen, dass die Reaktorgebäude
bebensicher seien.
"Das ist eine Vernebelungsstrategie", sagt Lars-Olov
Höglund, der zehn Jahre lang Chefkonstrukteur der Forsmark-Atomkraftwerke
des Vattenfall-Konzerns war und danach 25 Jahre als technischer Berater
für die schwedische Atomindustrie, Umweltorganisationen und die schwedische
Regierung gearbeitet hat. Wie stark das Beben, die Wellen und die Wasserstoffexplosionen
die Gebäude in Mitleidenschaft gezogen haben, "lässt sich unmöglich
berechnen". Die Statik der Bauten sei komplex, und viele ihrer Bereiche
seien aufgrund der Schäden und der Strahlung unzugänglich. "Es ist
unmöglich, die Gebäude für erdbebensicher zu erklären."
Im Zentrum der aktuellen Warnungen steht Reaktorblock 4,
dessen Dach von einer Wasserstoffexplosion weggesprengt wurde. Das Gleiche
ist in den Gebäuden 1 und 3 geschehen, in Block 4 aber sind die Schäden
besonders groß. Oberhalb der fünften Etage seien "die meisten Wände
und Dachplatten verloren gegangen", heißt es in einem Tepco-Report
zur Bebensicherheit der Gebäude. Anders als in Gebäude 1 seien in Nummer
4 nicht nur die Wände in der fünften Etage zerbröselt, sondern auch im
vierten und sogar im dritten Stock.
"Mit Sicherheit gibt es auch Schäden an den Abklingbecken
selbst", sagt Höglund. "Wir sehr sie geschwächt sind, wissen
aber vermutlich nicht einmal die Japaner." Tepco selbst erklärt dazu,
man habe man den Boden des Abklingbeckens in Gebäude 4 mit Beton verstärkt,
so dass es nun 20 Prozent stabiler sei als nach dem Tsunami. "20 Prozent
mehr im Vergleich wozu?", fragt Höglund. Eine solche Angabe ergebe
keinen Sinn, da die Stabilität seit der Katastrophe nicht berechenbar sei.
Sicherheit bei Erdbeben ab Stärke sieben zweifelhaft
KIT-Wissenschaftler Joachim Knebel äußert sich ähnlich.
Die Reaktorgebäude seien "nachhaltig beschädigt", es dringe Grundwasser
ein. "Bei Erdbeben ab Stärke sieben ist die Stabilität der Strukturen
nicht mehr gewährleistet." Derartige Erdstöße sind in Japan bei weitem
keine Seltenheit: Allein seit 2003 hat das Land zwölf solcher Beben erlebt.
Tepco aber habe zehn Jahre dafür veranschlagt, die Brennstäbe in trockene
Lagerung zu überführen, kritisiert US-Senator Wyden: "Das muss beschleunigt
werden."
Sollte eines der Abklingbecken leckschlagen, wären die
Folgen höchst unangenehm. Die ungekühlten Brennstäbe würden schmelzen,
erklärt KIT-Experte Walter Tromm. "Das Zirkon in den Brennstabhüllen
würde mit dem Wasserdampf reagieren und Wasserstoff bilden." Sollten
die beschädigten Reaktorgebäude dann schon mit neuen Dächern versehen sein,
könnte eine neue Explosion sie gleich wieder zerstören.
Falls nicht, würden radioaktive Spaltprodukte ungehindert
in die Atmosphäre gelangen. Gefährlich sind in einem solchen Fall insbesondere
die alten Brennstäbe, in deren Hüllen sich große Mengen an Spaltprodukten
angesammelt haben. "Dieser ganze Dreck würde dann in die Luft gelangen",
sagt Höglund.
Er hält sogar noch Schlimmeres für möglich. Da die Brennelemente
in sich nicht stabil sind, stehen sie in den Abklingbecken in Gestellen.
"Sollten die bei einem Erdbeben zu Bruch gehen, würden die Brennelemente
zusammenstürzen", so Höglund. "Wenn sie am Boden des Beckens
eine kritische Masse bilden und mit Restwasser in Kontakt kommen, kann
es zur unkontrollierten Kettenreaktion kommen." Dann wäre "der
Teufel los": Hunderttausende Liter Wasser könnten binnen Sekunden
verdampfen, strahlende Partikel und radioaktive Gase würden sich in der
Umgebung verteilen.
Es kann nicht sein, was nicht sein darf
Für den Fall eines Abklingbecken-Bruchs hat Tepco anscheinend
keinen Plan in der Schublade. Auf entsprechende Fragen antwortet das Unternehmen
ausweichend: Bei einem Ausfall der Kühlpumpen würde es 16 Tage dauern,
ehe der Wasserspiegel bis zur Oberkante der Brennelemente gesunken wäre
- was aber im Falle eines größeren Lecks Makulatur wäre.
Sollte ein Abklingbecken tatsächlich Wasser verlieren,
werde schon nichts passieren: "Die Wahrscheinlichkeit einer Schmelze
oder einer unkontrollierten Kettenreaktion ist gering", lautet der
Kommentar der Firma, frei nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht
sein darf. Höglund wundert das nicht. "Ein großer Riss im Abklingbecken
ist in Kernkraftwerken schlicht nicht vorgesehen. Dazu gibt es keine Szenarien
und keine Vorbereitungen."
Tromm hält eine unkontrollierte Kettenreaktion zwar für
weniger wahrscheinlich, sieht dafür aber noch eine andere Gefahr. Drei
der sechs Reaktoren in Fukushima wurden mit Meerwasser geflutet, als es
zur Kernschmelze kam. Das Wasser steht jetzt in den Sicherheitsbehältern,
die den Reaktordruckbehälter umgeben. "Für diese Wassermengen sind
die Behälter nicht ausgelegt", sagt Tromm. "Ob sie den Schwingungen
durch ein Erdbeben gewachsen wären, ist zweifelhaft."
US-Politiker Wyden, leitendes Mitglied des Senatsausschusses
für Energie und natürliche Ressourcen, befürchtet im Fall eines neuen starken
Erdbebens "eine noch größere Freisetzung von Strahlung als beim ersten
Mal". Nach seinem Fukushima-Besuch hat er Brandbriefe an US-Außenministerin
Hillary Clinton, Energieminister Steven Chu und den Chef der US-Atomaufsichtsbehörde
NRC Greg Jaczko geschrieben, in denen er mehr Unterstützung für die Aufräumarbeiten
in Fukushima fordert.
Die Schäden am AKW seien "weit jenseits dessen, was
ich erwartet hatte", so Wyden. Die Lagervorrichtungen für Brennelemente
befänden sich "in einem Zustand des Verfalls" und lägen in Bereichen,
die sie "für kommende seismische Ereignisse verwundbar machen".
Der Tsunami vom März 2011 war mit 14 Metern weit höher, als die Kraftwerksplaner
erwartet hatten - er überspülte den Deich des AKW problemlos. Jetzt, sagt
Wyden, sei der einzige Schutz vor einem weiteren Tsunami "ein kleiner,
provisorischer Deich aus Steinsäcken".
http://www.spiegel.de/wissenschaft/technik/fukushima-brennelemente-in-abklingbecken-bedeuten-gefahr-a-831078.html
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46637177.html