Das Paradies (Adam und Eva / Der Sündenfall) - Peter Paul Rubens
Sünde 1: Gratiskultur
→ “Was nichts kostet, ist nichts wert”, pflegte Oma zu
sagen.
Verleger sind sich heute weitgehend einig; teuer produzierte Inhalte
kostenlose ins Netz zu stellen, war einer der grössten Fehler zu
Beginn der Internet-Ära. Mit dieser Haltung wurde nicht nur ein
neues Geschäftsmodell brachliegen gelassen, schlimmer noch; es wurde
eine Gratiskultur erzeugt, aus deren Fängen man sich heute kaum mehr
zu lösen weiss. Diese Gratiskultur schlug sich auch im
Selbstverständnis einer jeden Redaktion nieder; Online ist
(vermeintlich) weniger wert als das traditionelle
Kerngeschäft — Print, Radio, TV. Das spüren die
Journalistinnen und Journalisten, aber auch die Mediennutzer, die
statt Premium-Qualität oft Zweitverwertung im Web vorgesetzt
bekommen.
Man sagt, Journalismus spiele eine elementare Rolle für die Bürger
einer Demokratie. Aber werden genügend Bürger bereit sein, für
Recherchen Geld zu bezahlen? Im Marketing sagt man: “Price is only
ever an issue in the absence of quality”. Der Preis ist kein Thema
für den Kunden, sofern der Wert stimmt. Daran sollte sich auch der
Journalismus messen. Wenn journalistische Arbeit einen Wert schafft,
dann hat diese auch einen Preis. Mit Werbung allein ist sie auf Dauer
nicht finanzierbar.
Sünde 2: Macht mit Wissen gleichsetzen
→ Die Geschäftsleitung will, dass wir die Farben in der App
anpassen. Das Rot gefällt ihnen nicht.
Die Geschäftsleitung ist verantwortlich für die Strategie. Daraus
leiten deren Mitglieder oftmals ab, dass sie alle Entscheidungen
selber treffen müssen. Dieser Reflex hat einen Makel: Macht und
Wissen kommen nicht automatisch Hand in Hand.
Ob rot oder grün die bessere Farbe für einen Button auf der
Webseite oder App ist, das muss in der Kompetenz der Designer liegen.
Schliesslich sind sie die Experten für diese Fragestellung und
werden dafür bezahlt. Sie setzen sich mit der Frage auseinander, wie
Farben auf die User wirken und welche zu Interaktion einladen. Zudem
testen sie ihre Annahmen direkt mit Nutzern und passen ihre Entwürfe
durch das Feedback an. Bei allem Respekt; des Finanzchefs Vorliebe
für erdige Farbtöne sollten für die Produktgestaltung keine Rolle
spielen.
Entscheidungen müssen in einem Unternehmen dort angesiedelt werden,
wo die Fachkompetenz am grössten ist. Das Management hingegen hat
die Aufgabe, Ziele vorzugeben und dann Verantwortung (inkl.
Vertrauen) an die Experten-Teams abzugeben, damit diese die optimalen
Lösungen entwickeln, um die vorgegebenen Ziele zu erreichen. Diese
Haltung entspricht nicht den traditionellen Mustern. Aber die junge
Generation von Journalisten, Produktentwicklern und
Marketingfachleuten will Freiheiten, Kompetenzen und
Handlungsspielräume. Zurecht.
Sünde 3: Sparen ohne zu
investieren
→ Kosten senken macht alle munter.
Kurzfristig mag diese Aussage stimmen. Langfristig führt sie ins
Verderben. Den klassischen Verlagen brechen zwei grundlegende
Einnahmequellen weg: Die Abonnenten und die Werbekunden. Erstere,
weil sich die Mediennutzung je länger je stärker in den digitalen
Raum verschiebt, wo nach wie vor kein oder deutlich weniger Geld mit
Journalimus verdient wird. Zweitere, weil Werbung bei Facebook und
Google effektiver ist, um Zielgruppen präzise und günstig zu
erreichen. Die Verlagsgewinne im Kerngeschäft Journalismus
schrumpfen darum bedrohlich schnell. Verleger lassen sich mit den
Worten zitieren: “Wenn das so weitergeht, ist hier in zwei bis drei
Jahren Lichterlöschen.”
Die vermeintlich richtige Konsequenz ist zu sparen. Verlage legen ihr
Geschäft zusammen, Redaktionen werden zusammengestrichen, Titel
verschwinden vom Markt, Supportbereiche werden bis zum Burn-Out
verkleinert. Was dabei gerne vergessen wird; Sparen verlangsamt
einzig das Sterben. Wer aber eine Wette auf die Zukunft des
Journalismus eingehen will, muss gezielt in neue Bereiche
investieren. Das kann eine Videoabteilung, ein Rechercheteam, ein
neues Produkt-Segment (Podcast, Newsletter, Konferenzen,…) oder
eine Offensive im Bereich Data & Technology sein. Lieber ein
schlechter Plan, als gar keiner. Entscheidend ist; wer neue
Geldquellen erschliessen will, muss neue Wege gehen. Und eine
Expeditionsausrüstung hat ihren Preis.
Sünde 4: Planen statt machen
→ Try and learn
Planung ist wichtig. Es ist die Phase eines jeden neuen Vorhabens, in
der Experten ihre Erfahrung auf den Tisch legen, debattieren und
mögliche Lösungen entwickeln. Allzu gerne werden dabei Monate,
manchmal sogar Jahre investiert, bevor es an die Umsetzung geht.
Kommt das geschaffene Angebot dann nicht wie erhofft bei den Kunden
an, hat man viel Zeit und Geld verbrannt.
Der agile Ansatz ist wesentlich pragmatischer und zielstrebiger. In
Kurz: Eine Hypothese aufstellen, einen Prototypen entwicklen, diesen
möglichst rasch am Markt testen, Feedback bekommen, daraus lernen
und so das Produkt weiterentwickeln. Das ist günstiger und
schneller.
Ein Beispiel aus der Praxis (Dieser Dialog hat genau so
stattgefunden):
“Wie wärs, wenn wir den neuen Studenten am ersten Uni-Tag
Hilfestellungen, Tipps und Vergünstigungen via WhatsApp anbieten?”
- “Ach das ist doch viel zu aufwändig. Das werden sie bestimmt
nicht nutzen.” Minutenlang wurden persönliche Meinungen und
Bedenken vorgetragen.
Keiner am Tisch konnte seine Meinung mit Zahlen und konkreten
Erfahrungswerten untermauern. Keiner am Tisch wusste, ob WhatsApp für
Studenten funktioniert. Ausser man probiert es.
Darum: Weniger planen, schneller machen. Die Antwort liefert nicht
der zwanzigste Workshop, sondern der Markt, das heisst; die Kunden.
Sünde 5: Produzieren ohne zu verkaufen
→ Was ist ein guter Verkäufer? Einer, der den Papst davon
überzeugt, sich ein Doppelbett zu kaufen.
Gute Journalisten sind neugierig. Sie wollen Dinge verstehen,
hinterfragen das Bestehende, versuchen durch Recherche der Wahrheit
so nahe wie möglich zu kommen. Sie können schreiben, filmen,
erzählen. Wäre ihr grösstes Talent, Kühlschränke an den Mann und
die Frau zu bringen, wären sie vermutlich Verkäufer geworden.
Verkaufen ist aber zur unverzichtbaren Disziplin im Journalismus
geworden. News und Geschichten werden immer seltener aktiv gesucht.
Inhalte müssen dorthin gebracht werden, wo die User sind. Push statt
Pull. So ist der Smartphone-Sperrbildschirm längst zur umkämpften
Zone geworden, wo Pushmeldungen um die Aufmerksamkeit potentieller
Leser buhlen. Damit hat sich auch der Job des Journalisten verändert:
Gefragt sind Titel und Bilder, welche bei den Rezipieten sofort die
Aufmerksamkeit wecken und Interesse auslösen. Gefragt sind
Pushnachrichten und Postings in Sozialen Netzwerken. Gefragt sind
Communities, welche die Geschichten teilen und so weiterverbreiten.
Gefragt sind immer häufiger bezahlte Werbung in Sozialen Medien oder
bei Google. Gefragt ist eine ganze Menge, was nicht zum erlernten
journalistischen Handwerk gehört, auf dem Weg zum Leser, Zuschauer
oder Zuhörer aber erfolgsentscheidend ist.
Gesucht: “Inhaltsverkäufer/in 100%”.
Sünde 6: Egozentriert statt nutzerzentriert
→ Niemand kennt unser Business besser als wir selbst.
Diese Aussage mag stimmen, aber was interessiert das die Kunden. Sie
allein entscheiden, ob ein Medium die richtigen Angebote hat und ob
sie bereit sind, Geld dafür zu bezahlen. Die traditionelle
Sichtweise aus dem Unternehmen heraus birgt stets das Risiko, an den
Bedürfnissen der Menschen vorbei zu handeln.
Was nützen einem Hotelier 30 Jahre Branchenerfahrung, wenn seine
Kunden ihre Übernachtungen plötzlich bei Airbnb buchen? Was nützt
es dem traditionsreichen Fotohersteller, dass er die Produktion von
Systemkameras besser versteht, als die Technikkonzerne im Silicon
Valley, wenn seine Kunden lieber mit einem Smartphone fotografieren?
Erfahrung wird dann zur Waffe, wenn sie dazu eingesetzt wird,
Produkte laufend den sich verändernden Kundenbedürfnissen
anzupassen. In der agilen und nutzerzentrieren Produktentwicklung
spielt der Kunde die entscheidende Rolle. Neue Ideen werden darum so
rasch wie möglich mit Nutzergruppen getestet. Schliesslich muss der
Wurm dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.
Sünde 7: Alleingang statt Kooperation
→ Do what you can do best — outsource the rest
Grosse Unternehmen haben vielfach das Selbstbewusstsein eingeimpft,
alle vom Kunden gefragten Dienstleistungen selber erbringen zu
können. Doch die Digitalisierung hat dazu geführt, dass Kunden mit
nur einem einzigen Klick bei der Konkurrenz sind und andere, bessere,
günstigere Angebote finden. Doppelt wichtig darum, sich auf das
Kerngeschäft zu fokussieren. Was können wir besser, als alle
anderen?
Es gibt wenig gute Gründe, als Medienunternehmen auch noch alle
Infrastuktur-Probleme selber zu lösen. So manches Startup hat bitter
bereut, teure Programmierer an die Entwicklung eines eigenen
Content-Management-Systems zu setzen, statt eine fertige Drittlösung
zu kaufen und sofort mit dem journalistischen Kerngeschäft
anzufangen.
Neben dem Outsourcing werden auch Kooperationen immer wichtiger. Wenn
zwei Unternehmen das gleiche Problem haben, kommt man zusammen
schneller und günstiger zur Lösung — und kann dabei erst noch
gegenseitig von den gemachten Erfahrungen und Daten profitieren.
Geben und nehmen ist die Devise. Um alles alleine schaffen zu können,
ist das Marktumfeld zu rau.
Sünde 8: Alles wollen
→ Fokus bedeutet Verzicht. Weniger ist mehr.
Grosse Reportagen, ein neues Magazin, Newsletter, Audio-Podcasts, ein
Chatbot, eine Kochshow, eine Reisesendung, Instagram, Snapchat und
eine VR-Serie. Die Möglichkeiten auf dem digitalen Spielplatz sind
unbegrenzt. Und da am Horizont immer neue Services und Plattformen
dazu kommen, welche locken, mit journalistischen Inhalten bespielt zu
werden, wird die To-Do-List auf der Redaktion immer länger. Notabene
bei immer weniger Personal. Das geht auf Dauer nicht auf.
Wer also Neues ausprobieren will — und das ist absolut richtig
und wichtig — muss gleichzeitig bereit sein, alte Zöpfe dort
abzuschneiden, wo sie nicht für den Unternehmenserfolg entscheidend
sind.
Die Losung “Weniger ist mehr” klingt verbraucht, und kommt
dennoch nicht aus der Mode. Weniger bedeutet Fokus. Fokus auf das
Allerwichtigste. Fokus heisst, volle Konzentration, Herzblut und Zeit
für das Wesentliche. Für die Strategie-Diskussion wie auch für den
redaktionellen Alltag empfielt sich die Frage: “Was lassen wir
weg?”
Sünde 9: Die interne Kommunikation vergessen
→ Kommunikation ist unser Geschäft, das haben wir im Griff
Da Medien von Natur aus Informationen verbreiten, unterliegen sie der
trügerischen Annahme, sie hätten auch im eigenen Haus die
Kommunikation automatisch im Griff. Doch gerade in Medienhäusern
zeigt sich immer wieder, wie sträflich der adäquate
Informationsfluss nach innen vernachlässigt wird. Dass Mitarbeiter
über die grossen Entscheidungen vor allen anderen externen
Stakeholdern informiert werden wollen, ist klar. Genauso wertvoll ist
es aber, Teams in die strategischen Fragestellungen miteinzubeziehen,
sie proaktiv über Probleme zu unterrichten und um ihre Mithilfe zu
bitten. Mündige, gut informierte Mitarbeiter leisten mehr und können
durch ihr Handeln gezielt zum Erfolg beitragen. Motivation fängt
beim persönlichen Gespräch an, beim Vertrauen, dem Übertragen von
Verantwortung und nachweislich nicht beim Lohn.
Sünde 10: Hierarchie statt Empowerment
→ Mein Chef hat gesagt…
Manager mögen Organigramme, weil darin klar wird, wer wofür
zuständig ist, und wer wem die Aufträge gibt. Aber diese
hierarchischen Strukturen kommen durch die Digitalisierung ans Ende
ihres Lebenszyklus. Es entstehen neue Organisationsformen, mitunter
revolutionäre wie Holacracy. Ein System, welches auf ein hohes Mass
an Selbstorganisation der Mitarbeiter und Teams setzt.
So weit braucht man als Medienhaus gar nicht zu gehen. Als erster
Schritt empfiehlt es sich, dedizierte Teams für spezifische
Produkte/Aufgaben aufzubauen. Und zwar Teams, welche Produkte von A-Z
verantworten; von der Entwicklung über die Distribution bis zum
Support. Konkret: Bilden Sie ein Team aus Designer, Programmierer,
Journalist, Datenspezialist und Marketing/Vertrieb und geben sie
ihnen eine klare Mission. Solche Teams identifizieren sich deutlich
stärker mit ihrem Produkt und den Zielgruppen.
Agile Organisationskulturen sind geprägt von Transparenz, Dialog,
einer Haltung des Vertrauens, sowie engmaschigen Feedbackmechanismen.
Kein System, welches von heute auf morgen implementiert ist. Aber
eine Reise, die sich lohnt — nicht nur für
Technologie-Abteilungen, sondern auch für Redaktionen, ja gar ganze
Medienunternehmen.
Sünde 11: Inspiration ohne Regelwerk
→ Talk but no walk
Vorträge halten, Reden schwingen, Botschaften verkünden. Alles
wichtig und richtig. Nur, damit allein ist es nicht getan. Um eine
neue Strategie umzusetzen reichen Worte allein nicht. Zwar findet im
Kopf in kleinen Schritten ein Umdenken statt, aber nur wer die
Notwendigkeit für das Neue versteht, handelt noch lange nicht in
ihrem Sinn.
Es braucht konkrete Massnahmen, welche die Arbeitsweise im Alltag
verändert. Mitunter müssen die konkreten Arbeitsabläufe vorgegeben
und kontrolliert werden. Kein Medienunternehmen hat die Zeit zu
warten, bis alle Mitarbeiter ausreichend Lust verspüren, die
Strategie mitzutragen und entsprechend zu handeln.
So hilft bei Social Media zum Beispiel eine verbindliche
Content-Planung, welche vorgibt, wie oft auf welchem Kanal Inhalte
publiziert werden. Ein solches Mengengerüst schafft einerseits
Planungssicherheit für die zuständige Redaktion (Was machen wir am
Sonntag bei Instagram, wenn das Wetter verrückt spielt?) und
andererseits Präsenz bei den Leserinnen und Nutzern.
Sünde 12: Kreativität voraussetzen
→ Macht mal was Kreatives. Ihr wisst schon, so was Virales.
Schön, wenn es so einfach wäre. Aber Kreativität, welche sich im
Medien-Dschungel von all dem Lärm abhebt, ist nichts, was mal eben
kurz bei der Redaktionssitzung geplant und husch-husch umgesetzt
werden kann. (Ein Hoch auf die Ausnahmen). Kreativität braucht Raum,
eine etwas längere Leine, eine Kultur, in der Risiko gefeiert statt
abgestraft wird. Und es braucht Typen (männlich wie weiblich zu
verstehen). Typen, die mit ihrer Meinung anecken und auch mal gegen
den Mainstream schwimmen. Kreativität ist keine Eigenschaft, die wir
alle mit der Muttermilch mitbekommen haben. Wer Kreativität im
Alltag will, muss darum beim Recruiting beginnen.
Jedes erfolgreiche Unternehmen hat Mitarbeiter, die immer wieder
extra Meilen gehen, die mit grosser Leidenschaft für Exzellenz
kämpfen, die ungefragt neue Ideen einbringen und vor dem Einschlafen
noch einem unzufriedenen Kunden auf Twitter antworten. Diese
Mitarbeiter sind schwer zu finden und nur zu halten, wenn der
Handlungsspielraum, die Gestaltungsmöglichkeiten und die menschliche
Wertschätzung stimmt.